Die Hauptschule an der Wiesentfelser Straße, München
Wir befinden uns im Jahr 2010 n. Chr. Der Ruf der Hauptschule ist überall ruiniert. Überall? Nein! Eine kleine Hauptschule in einer großen Stadt in Bayern hört nicht auf, sich zur Wehr zu setzen.
Die Umgebung der Schule ist architektonisch reizarm, eher trist und grau. Der Besucher ist gut beraten, wenn er sich bewusst macht, in welcher Stadt er sich befindet – es könnte auch einer der vielen Stadtteile in einer der vielen weniger wohlhabenden Städte Deutschlands sein. Das Schulgebäude der Hauptschule Wiesentfelser Straße in München Neuaubing ist äußerlich seiner Umgebung angepasst – mit etwas mehr Grün drum herum. Im Inneren allerdings wird die karge Funktionalität überraschend aufgebrochen durch gestaltete Wände, freundliche Farben und eine ins Auge fallende Sauberkeit.
Was aber den architektonischen Eindruck von draußen wirklich kontrastiert, ist die Atmosphäre der Schule. Wir sind in einer Hauptschule in einem Stadtteil, in dem es außer Grundschulen nur Haupt- und Sonderschulen gibt. Im Schulsprengel sind Deutsche eine Minderheit. Die meisten Bewohner leben von Sozialhilfe und leiden unter einer Perspektivlosigkeit, die sie oft an ihre Kinder weitergeben.
Diese Schule ist eine andere Welt. Den Besuchern begegnen freundliche, aufgeschlossene, auskunftsbereite und auskunftsfähige Menschen, Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Schule – Menschen, die sich, das spüren wir, offenbar auch im Alltag mit Respekt begegnen. Die Schüler zeigen sich in den Gesprächen selbstbewusst und sprachgewandt. Unsere Gesprächspartner identifizieren sich mit ihrer Schule, die allen Klischees und dem allgemeinen Ruf der deutschen Hauptschule widerspricht.
Die besonderen Lernanreize für Schülerinnen und Schüler
Wie schafft die Schule das? Im Leitbild steht als erster Satz: „Im Mittelpunkt stehen unsere Schüler/-innen“ – wie in vielen Leitbildern anderer Schulen auch. Hier wird dieser Satz aber alltäglich mit Leben erfüllt. Ein Indiz: Der Rektor und die Konrektorin (und wohl die meisten Lehrkräfte) kennen nicht nur die Namen aller (wirklich: aller!) ihrer Schülerinnen und Schüler, sondern sie wissen auch richtig viel von ihnen.
Ein weiteres Indiz ist die ständig sichtbare Ermutigung der Schülerinnen und Schüler und das Zutrauen, das ihnen entgegengebracht wird. Der Schule gelingt es, eine Atmosphäre aufzubauen, die den Kindern und Jugendlichen vieles geben kann, das sie zu Hause missen.
Erst auf diesem Fundament werden sie dann auch innerlich frei und bereit, forschen, planen, untersuchen, entdecken und üben – also lernen – zu können.
Zu der familiären Atmosphäre trägt auch das für 1.- € pro Woche angebotene Frühstück in der Schule bei. Auch einige Schüler, die zu Hause frühstücken könnten, ziehen das gemeinsame Frühstück mit ihren Freunden in der Schule vor. Diese morgendliche Kontaktmöglichkeit nutzt auch der Schulleiter regelmäßig. Eine Schule mit Schülern unterschiedlicher Leistungsvoraussetzungen, oftmals demotiviert und desinteressiert aufgrund negativer Erfahrungen aus der Grundschule, häufig abgestempelt als Loser, eine solche Schule muss schon Außergewöhnliches aufbieten, wenn seit einigen Jahren 40% ihrer Schüler in Ausbildungsberufe vermittelt werden, ein hoher Prozentsatz weiterführende Schulen besucht und nur wenige der größeren Chancen wegen die 9. Klasse wiederholen. Kein Schüler beendet vorzeitig oder ohne Abschluss seine Schulzeit, auch die Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf erreichen den Hauptschulabschluss. Die Schule weiß, dass die Schüler der Abschlussklassen gute Leistungen und Ausbildungsreife mitbringen müssen, um Aussicht auf Ausbildungsplätze zu haben, und sie investiert viel dafür.
Dazu gehört auch, dass im Jahrgang 5 und 6 ein besonderes Augenmerk darauf gelegt wird, die Schüler nach ihren häufig frustrierenden Erfahrungen in der Grundschule aufzufangen und ihnen wieder Leistungsfreude und Zuversicht zu vermitteln. Deshalb gibt es in dieser Zeit viel Projektarbeit und zahlreiche kreative Kurse Die Schule hat dafür Künstler, Handwerker und Musiker gewonnen. Dass das Konzept aufgeht, zeigen die begeisterten Berichte von Schülern und Eltern, die von neuem Zutrauen und wieder entdeckter Freude am Lernen sprechen und erzählen, dass es mitunter den Geschwistern, die eine andere weiterführende Schule besuchen, wesentlich schlechter geht. Das ist es wohl, was die Schule auszeichnet: der konsequente und unbedingte Einsatz für die Schülerinnen und Schüler, den die Schulleitung täglich überzeugend vorlebt und das Kollegium sich zu eigen gemacht hat.
Leben nach der Schule
Das Kollegium der Hauptschule an der Wiesentfelser Straße legt einen besonderen Schwerpunkt darauf, dass die Absolventen die Schule mit möglichst guten Chancen für „das Leben danach“ verlassen. Dazu gehört die intensive Förderung ihrer Sprech- und Lesekompetenz. Die Schülerfirma „Die Vorleser“ ist eine Initiative, die dieses Ziel verfolgt, indem sie Lesen zur gefragten Leistung in einen lebensdienlichen Kontext macht: Schülerinnen und Schüler von der 5. bis zur 9. Klasse treffen sichwöchentlich und üben, Geschichten und Gedichte vorzutragen. Die Vorleser werden dann von Altenheimen, Schulen, Kindergärten und anderen Einrichtungen gebucht und lesen dort gegen ein kleines Honorar selbst ausgesuchte oder auch bestellte Texte. Über die Verwendung der dabei erzielten Einnahmen bestimmen am Schuljahresende die Mitglieder der Schülerfirma.
Ein besonders beeindruckendes Beispiel der Firma „Die Vorleser“ ist eine Schülerin der 9. Klasse, die einmal wöchentlich auf einer geriatrischen Station vor demenzkranken alten Menschen liest. Beinahe selbstverständlich ist, dass der Schulleiter sich um eine Supervision für diese Schülerin bemüht und sie bei dieser herausfordernden Aufgabe persönlich begleitet.
Zwei weitere Schülerfirmen komplettieren das „Angebot“ der Schule: die Schülerzeitung „Wiesen’Mix“ und die Schulkleidungsfirma „Wies’n -T-shirt“. In allen drei Schülerfirmen erlernen die Schülerinnen und Schüler Öffentlichkeitsarbeit, Vermarktung und Abrechnungs- formen. Alle Firmen erwirtschaften Gewinne. Dabei achtet die Schule darauf, dass die betreuenden Lehrkräfte sich wirklich im Hintergrund halten. Die Schüler sollen ihre eigenen Ideen, entwickeln, sie sollen ihre eigenen Erfahrungen machen und diese auch an andere Schüler weitergeben.
Zahlreiche Kooperationspartner unterstützen die Schule dabei, die „Motivation“ – den eigenen Lern- und Leistungswillen – der Schüler zu stärken. Für die Forderung der Lesekompetenz hat die Schule 25 ehrenamtlich arbeitende Menschen gefunden, die als „Lesepaten“ einzelne Schüler oder Kleingruppen betreuen und mit unterschiedlichen Angeboten die Lesekompetenz stärken. Beim Projekt „Vorbilder“ kommen junge Migranten in die Schule, die es direkt oder auch auf Umwegen beruflich geschafft haben und nun wichtige, Mut machende Erfahrungen und Informationen weitergeben können. Das Projekt „Sprungbrett“ besteht aus ehrenamtlichen Berufspaten und Wirtschaftsjunioren der Stadt München, die die Schüler des 8. und 9. Jahrgangs bei Arbeitsamtsbesuchen, Bewerbungen, bei der Suche nach Praktikumsstellen oder bei Vorstellungsgesprächen unterstützen.
Erfahrungen mit Lernpartnern
Überhaupt die Kooperationspartner! Die Schule hat es geschafft, nicht weniger als 23 Kooperationspartner – Firmen, Vereine, Personen, Behörden – an sich zu binden, die die Arbeit des Kollegiums ergänzen, unterstützen und erweitern.
In einer Gesprächsrunde mit Vertretern von einigen dieser Partner wird deutlich, dass eine so gute Zusammenarbeit mit einer Schule durchaus nicht verbreitet ist. Im Unterschied zu anderen Schulen zeigt die Hauptschule Wiesentfelser Straße eine hohe Kooperationsbereitschaft; der Kontakt wird intensiv gepflegt und keineswegs nur „konsumiert“. Bei aller Unterstützung lässt sich die Schule das Heft des pädagogischen Handelns nicht aus der Hand nehmen. Sie wählt sehr wohl aus, wer ins Haus kommt und wer nicht. Das Kriterium ist: Was hilft unseren Schülern wirklich weiter?
Bemerkenswert sind Leistung und Engagement Einzelner. So setzt sich die Elternbeiratsvorsitzende, hoch identifiziert mit „ihrer“ Schule und voller Eifer, im Stadtteil unermüdlich für die Einbindung der Eltern mit Migrationshintergrund in das Schulleben ein. Sie ist zu Recht stolz auf das Erreichte.
Schon rein physisch eine imponierende Erscheinung – auch ohne Uniform – ist der Jugendpolizist des Stadtteils, der zwar für viele Schulen zuständig ist, doch in der Wiesentfelser Straße ein besonderes Engagement zeigt, ein gutes Verhältnis zu Eltern und Schülern hat und durch enge Zusammenarbeit mit Schulleitung und dem Kollegium gut informiert ist. Er genießt das Vertrauen der Schülerinnen und Schüler, die sich an ihn wenden, nicht nur wenn sie „Mist gebaut“ haben; auch sonst, so dass er praktisch gesehen die Funktion eines Sozialarbeiters mit erfüllt. Er ist sich sehr wohl bewusst, dass dieses gute Verhältnis durchaus auch ein Verdienst der Schulleitung und des Kollegiums ist.
Zu einem richtigen Besuch dieser Schule gehört es unbedingt, in den Schulkeller hinabzusteigen. Hier wird man von rhythmischen Klängen einiger Schlagzeuge empfangen, die sich zu einer für Musikschulen typischen, zugleich strukturierten und chaotischen Übungskulisse aufschichten. Mutmaßend, dass hier eine Musikschule mit einem besonderen Angebot für die Schülerinnen und Schüler tätig geworden ist, muss der Besucher sich belehren lassen, dass es der Hausmeister ist, der hier kostenlos Schlagzeugunterricht erteilt und mit den Schülern gewissermaßen gemeinsam auf die Pauke haut. Ein echter Hausmeister aus Fleisch und Blut, der den Hausmeister- Mythos glatt überbietet.
Die lernende Schule
Eine große Aufgabe sieht die Schule in der Planung und Gestaltung unterschiedlicher Unterrichtsformen, die den Fähigkeiten und Möglichkeiten und den unterschiedlichen Lernvoraussetzungen aller Schülerinnen und Schüler noch besser als bisher gerecht zu werden vermögen. Die Schule hat in wenigen Jahren in diesem schwierigen Wohngebiet Außergewöhnliches geleistet und umgesetzt. Man darf erwarten, dass sie auch weitere Entwicklungsschritte ebenso eindrucksvoll gehen wird.
Interview mit der Schulleitung, Frau Zeitler (stellv. Schulleiterin) und Herrn Walther (Schulleiter)
Von wem/wodurch hat die Schulleitung am meisten gelernt?
„Die Schulleitung und mit ihr das gesamte Kollegium hat in zwei Angeboten am meisten gelernt: Bei Dr. Richard Sigel von der LMU im Bereich der systematischen Schulentwicklung, Hier haben wir intensive Fortbildung zu den Themen Leitbild und Schulprogramm, Personalentwicklung, Teamentwicklung, Projektmanagement und Unterrichtsentwicklung erhalten. Die Fortbildungen der Hertie-Stiftung. Hier war uns der Austausch mit anderen Schulen, die Vorstellung unterschiedlicher Projekte und die Art und Weise der Problembewältigung anderer Schulen wichtig.“
Welche Fragen/welche Herausforderungen haben Ihre Schule am meisten vorangebracht? Welche Fragen stellt sich die Schule heute?
„Die spezielle Situation im Sprengel mit einem Ausländeranteil von 80 %, von denen 90 % aus der Türkei kommen. Das Bewusstsein, alles allein schultern zu müssen, da es durch die Behörden und die Schuladministration kaum Unterstützung – eher Behinderungen – gibt. So haben wir kein Mitspracherecht bei Personalentscheidungen und verlieren heuer eine gute Lehrerin mit Montessoridiplom, die wir für unser zukünftiges Vorhaben, der Weiterentwicklung von Unterricht, so gut in unseren Reihen gebraucht hätten. Wie sichern wir das bisher Erreichte, hat es Bestand in den neu zu bildenden Schulverbünden? Oder gehen wir da mit unseren Vorhaben unter?
Wie können wir unter den jetzigen Bedingungen Unterricht entwickeln?“
Ergänzen Sie den Satz: Unsere Schule wird ganz besonders geprägt durch…
„… ein erfahrenes, lernwilliges Kollegium, welches junge Kolleginnen und Kollegen an die Hand nimmt und führt. Diese Mentorenschaft entwickelt sich von allein. Wir wissen nicht, wie es passiert – es passiert aber zuverlässig und muss nicht geplant werden. Wir glauben, dass es mit der Offenheit und Aufmerksamkeit der Kolleginnen und Kollegen für andere Menschen zusammenhängt.“
Thomas Oertel
aus: Peter Fauser, Manfred Prenzel, Michael Schratz: Was für Schulen! Individualität und Vielfalt – Wege zur Schulqualität. Klett/Kallmeyer 2010